Marina Widmer ist eine der sichtbarsten Vertreterinnen der Frauenbewegung in St.Gallen und wirkte unter anderem bei der Gründung der Frauenbibliothek Wyborada (1986) und des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz (1999) und der Politischen Frauengruppe St.Gallen (1980) mit. Weitere Projekte, die sie mitgründete, sind das Solidaritätsnetz Ostschweiz und der seit 1993 bestehende «CaBi Antirassismus Treff».
Als langjährige Leiterin des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte setzt sich Marina Widmer aktiv dafür ein, den Kanon der offiziellen Geschichtsschreibung, insbesondere St.Gallens und der Ostschweiz, zu erweitern. Mit vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern hat sie eine umfangreiche Materialsammlung zum Leben und Wirken von Frauen sowie zur Geschichte sozialer Bewegungen in der Region aufgebaut. Sie nimmt mit ihrem langjährigen Engagement eine zentrale Rolle in der Aufarbeitung und Bewahrung der feministischen Geschichte der Stadt und der Region ein. Eine gesamtgesellschaftliche Arbeit, die auch für den Kulturbereich von wesentlicher und aktueller Bedeutung ist. Mit ihrer Forschungs- und Vermittlungstätigkeit macht Marina Widmer die singuläre Sozialgeschichte der Zentrumsstadt St.Gallen als lebendiges Kulturgedächtnis für zukünftige Generationen zugänglich.
Als Initiantin und Kuratorin von Ausstellungen wie «Ricordi e stima – Fotografie und Oral History zur italienischen Migration nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre in der Schweiz» (2016 im HVMSG, 2017 im Stadtmuseum Rapperswil) und «Klug und kühn – Frauen schreiben Geschichte» (2021 im HVMSG, weitere Stationen sind Rapperswil 2021/2022 und Chur 2024) setzt sie sich aktiv dafür ein, Migrations- und Frauengeschichte einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln.
Marina Widmer ist zudem Autorin und Mitherausgeberin verschiedener Publikationen wie «Grazie a voi» (2016), «Blütenweiss bis rabenschwarz» (2003, mit Heidi Witzig u.a.) mit Portraits von 200 St.Galler Frauen, die anlässlich des Kantonsjubiläums veröffentlicht wurden, der Monografie zu Elisabeth Gerter, «Nicht die Welt, die ich gemeint» (2006), und der Zeitschrift Olympe, feministische Arbeitshefte zur Politik. Ein weiterer von ihr mit auf den Weg gebrachter Band, «Das hier ... ist mein ganzes Leben» (2012, Hrsg. Solidaritätsnetz Ostschweiz und Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht), porträtierte abgewiesene Asylsuchende in der Schweiz. Aktuell engagiert sich Marina Widmer im Vorstand des Vereins Wyborada für den Aufbau eines Literaturhauses in St.Gallen.
Der mit 30'000 Franken dotierte Kulturpreis der Stadt St.Gallen würdigt Kulturschaffende, die sich um die Förderung des allgemeinen kulturellen Lebens der Stadt besondere Verdienste erworben haben und die in ihrem Tätigkeitsgebiet Leistungen von überregionaler Bedeutung erbracht haben. Mit Marina Widmer wird eine Frau ausgezeichnet, die mit ihrer langjährigen, kontinuierlichen und engagierten Arbeit in Sachen Frauen- und Sozialgeschichte der Ostschweiz und insbesondere St.Gallen immer wieder Wichtiges thematisiert und vermittelt hat. Sie hat sich Jahrzehnte lang in einem harten Umfeld kontinuierlich behauptet und dem Anliegen Gehör verschafft. Der Preis ist eine Anerkennung für den Werdegang und das Engagement Marina Widmers wie auch ein Statement für die feministische kulturpolitische Arbeit. Sie hat sich stets für die Geschichte, die Menschen der Stadt interessiert und deren Themen vermittelt. Dies tat sie mit grossem Engagement und hoher Professionalität. Ihr grosses Netzwerk und ihre Verankerung in Fachkreisen und direkt bei den Menschen brachten für die Stadt grosses Wissen und Themenvielfalt ein. Marina Widmer gebührt hoher Respekt vor der Ausdauer in ihrem Schaffen und Dank, dass ihr Wirken Spuren hinterlässt.
Die feierliche Übergabe des Preises wird im Herbst 2022 stattfinden, der Termin wird im Frühjahr 2022 bekannt gegeben.
Weitere Infos: Frauenarchiv Ostschweiz, Frauenbibliothek Wyborada